UfU Informationen | Ausgabe 11 – Januar 2024 | Niklas Müller

Die Berliner Ernährungsstrategie

Der Startschuss für die Ernährungswende?

Berlin wächst. Laut dem statistischen Bundesamt wird die Bevölkerungszahl bis 2035 die vier Millionen überschreiten und bis 2070 auf 4,4 Millionen ansteigen, wenn die Geburtenrate, Lebenserwartung und Zuwanderung auf dem aktuellen Niveau bleiben.[1] Mit wachsender Bevölkerung steigt auch die Nachfrage nach Lebensmitteln. In Berlin wird der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Lebensmitteln auf 1000 kg geschätzt und der damit verbundene Bedarf an landwirtschaftlicher Fläche auf 2052 m².[2] Gleichzeitig macht die Lebensmittelproduktion mehr als ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen aus und trägt somit zu einem großen Teil zur Klimakrise bei.[3] Die Herausforderung für Berlin ist nun, die Ernährungssicherheit der Bevölkerung sicherzustellen ohne die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu vernachlässigen.

Diese sogenannte Ernährungswende erfordert einen umfassenden Transformationsprozess mit ressortübergreifender Zusammenarbeit von Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Deswegen hat die Berliner Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz gemeinsam mit dem Berliner Ernährungsrat die Berliner Ernährungsstrategie entwickelt. Das Ziel ist es die Regionalität, Nachhaltigkeit und Fairness der Lebensmittelproduktion zu fördern und gesundheitsfördernde Kost für alle bereitzustellen. Dafür werden in sieben Handlungsfeldern verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, deren Umsetzung von einem Monitoring, einer Evaluation und einer Erfolgskontrolle begleitet werden.[4]

Im ersten Handlungsfeld soll die Gemeinschaftsverpflegung z.B. in Schulen und Kitas als gutes Vorbild vorangehen. Dafür soll der Anteil ökologischer, regionaler, saisonaler, gesunder und fair gehandelter Lebensmittel kontinuierlich gesteigert und Lebensmittelverschwendung auf ein Minimum reduziert werden. In der Grundschulverpflegung ist bisher am meisten passiert. So wurde der Bioanteil bis August 2021 auf 50% Prozent erhöht und bestimmte Lebensmittel wie Nudeln, Reis, Kartoffeln, Milchprodukte und Früchte dürfen ausschließlich in Bio-Qualität angeboten werden. Ausgewählte Lebensmittel wie Reis, Bananen und Ananas müssen zusätzlich aus nachweislich fairem Handel stammen. Die Bundeskantinen der Ministerien haben außerdem das Ziel bis 2025 den Bioanteil zunächst auf 20 Prozent zu erhöhen. Allerdings fehlen in Kitas, Krankenhäusern, Betriebskantinen und Gefängnissen bisher vergleichbare Zielvorgaben.[5]

Die Nachfrage nach regionalen Lebensmitteln in Berlin und Umgebung übersteigt seit Jahren das Angebot. Doch der Großteil der in Brandenburg erzeugten Lebensmittel landet auf dem Weltmarkt.  Gleichzeitig wächst das Angebot an regionalen Bio-Lebensmitteln deutlich langsamer als die Nachfrage. Aus diesem Grund soll im Handlungsfeld 2 die lokale Landwirtschaft in Berlin und Brandenburg durch den Ausbau der vorhandenen Marktbeziehungen vermehrt gefördert werden. Zum Beispiel können sich Lebensmittelproduzenten und Supermärkte dazu verpflichten die Ware von regionalen Produzenten abzunehmen. Dies bringt vielfältige Vorteile mit sich wie eine stärkere soziale Teilhabe und Integration, eine Verringerung der Lieferwege und die Verbesserung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft. Deswegen fordert der Berliner Ernährungsrat die Lieferwege zwischen Berlin und Brandenburg kleinteiliger und dezentraler zu organisieren und zu gewährleistet, dass in Brandenburg erzeugte Lebensmittel auch abgenommen werden.[6] Aufgrund der weitgehend ländlichen, dünn besiedelten Randgebiete könnte die Region Berlin Brandenburg mit ihrer verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche theoretisch genug konventionelle Lebensmittel produzieren, um sich komplett selbst zu versorgen. In Kombination mit einer veränderten Ernährung und der Verringerung von Lebensmittelabfällen könnte sogar eine rein ökologische Lebensmittelproduktion mit der regionalen Selbstversorgung vereinbar sein.[7] Aus diesem Grund steht in Handlungsfeld 2 die Förderung der Wertschöpfung in der Region im Fokus. Es wäre auch möglich Umweltkriterien für öffentliche Ausschreibungen zu erarbeiten, die regionale Erzeuger*innen begünstigen. Dies steht allerdings in Konflikt mit EU-Recht und wird aufgrund der Komplexität in diesem Artikel nicht näher beleuchtet.

Seit einigen Jahren entwickelt sich in Berlin eine innovative Ernährungswirtschaft, die sich dem Ziel einer auf Regionalität und Nachhaltigkeit ausgerichteten Landwirtschaft verpflichtet fühlt. Daraus sind bereits neue kooperative Wirtschafts- und Wertschöpfungsmodelle entstanden Deswegen sollen im Handlungsfeld 3 Betriebe und Initiativen gefördert werden, die wichtige sozial-ökologische Leistungen erbringen und sich für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem starkmachen.

Handlungsfeld 4 konzentriert sich auf die sogenannten LebensMittelPunkte in den Berliner Kiezen. LebensMittelPunkte geben Privatpersonen und kleineren Unternehmen einen Ort für die Lagerung, Weiterverarbeitung und den Verkauf von Lebensmitteln. Außerdem bieten sie der Bevölkerung Raum sich zu treffen auszutauschen und gemeinsam zu kochen. Damit sollen LebensMittelPunkte die soziale Integration und eine gesunde Ernährungsweise in den Kiezen fördern.[8] Des Weiteren sollen im Handlungsfeld 4 regionale Vermarktungsinitiativen, urbane Gärten und die Solidarische Landwirtschaft unterstützt werden. Die Solidarischer Landwirtschaft ist ein Konzept der Direktvermarktung. Die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs werden dabei auf mehrere private Haushalte aufgeteilt, während sie im Gegenzug einen Teil des Ernteertrages erhalten.

Das Handlungsfeld 5 umfasst die Ernährungsbildung, die bereits 2015 im Berliner Rahmenlehrplan für den Unterricht fest verankert wurde. Im Vordergrund steht die Stärkung der Ernährungsbildung. Dies soll durch die Einführung von Qualitätsstandards, den Zugang zu geeigneten Informationsmaterialien und den verbesserten Erfahrungsaustausch der beteiligten Akteur*innen gelingen. Zum Beispiel können in Kitas und Schulen vermehrt Schulgärten und Kantinen mit eigener Küche für die Ernährungsbildung angeboten werden, damit Schüler*innen an dem Anbau und der Weiterverarbeitung ihrer Lebensmittel teilhaben können.[9] Des Weiteren ist es wichtig Bürger*innen für die Folgen der Landnachfrage von lebensmittelpolitischen Entscheidungen oder strukturellen Veränderungen im Lebensmittelsystem zu sensibilisieren. Dadurch bekommen Bürger*innen ein Gefühl der Verantwortung und erfahren, dass sie mit ihrem Konsumverhalten eine nachhaltige und faire Landwirtschaft fördern können.

In 2017 wurden in Berlin im Schnitt 71 kg an Lebensmitteln pro Einwohner*in weggeworfen. Dazu kommen 100.000 Tonnen Speiseabfälle im gastronomischen Bereich.[10] Alleine 31% der Produktionsfläche für Lebensmittel könnte eingespart werden, wenn die Abfälle entlang der Lieferkette und im Haushaltskonsum auf null reduziert werden würden.[11] Folglich soll im Handlungsfeld 6 durch die Entwicklung eines Abfallvermeidungskonzeptes die Lebensmittelverschwendung drastisch reduziert werden.

Zuletzt möchte die Verwaltung im Handlungsfeld 7 ihrer Vorbildfunktion gegenüber den Bürger*innen gerecht werden und bei der Auftragsvergabe die Ziele der Berliner Ernährungsstrategie berücksichtigen.

Mit der Berliner Ernährungsstrategie hat die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz die Ernährungswende eingeleitet. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen. Der Berliner Ernährungsrat bemängelt u.a., dass die Ressortabstimmung der Verwaltung über ein Jahr gedauert habe. Außerdem kritisiert er den fehlenden Strategiecharakter, da die Berliner Ernährungsstrategie nur Handlungsfelder aufzeige ohne messbare Ziele, Maßnahmen oder Möglichkeiten zur Finanzierung zu definieren. Zum Beispiel sei eine Bioqualitätsquote von 100 Prozent in den Berliner Kantinen bis spätestens 2030 unabdingbar, um den Auswirkungen konventioneller Landwirtschaft auf Biodiversität, Gesundheit, Grundwasser und Klimawandel entgegenzuwirken. Niedrige Quoten wie bis 2025 20 Prozent Bioprodukte in Bundeskantinen zu verwenden seien nicht ambitioniert genug, da sie durch Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Reis und Nudeln schnell erreichbar seien und keine große Wirkung erzielten. Ohne Kostenerhöhung sei heute schon ein Anteil von 60 Prozent Bioprodukten in den Kantinen möglich, wenn zum Beispiel das Fleischangebot reduziert würde. Dabei geht es aber nicht darum vollends auf Fleisch zu verzichten, sondern auf einen reduzierten aber qualitativ hochwertigeren Fleischanteil zu achten. Alles in allem sei eine langfristige Förderung und prozessbegleitende Beratung von Stakeholdern in der Kantinenbranche nötig, um ihnen während des Umstellungsprozesses zur Seite zu stehen. Zu begrüßen sei jedoch, dass die Berliner Ernährungsstrategie fortgeführt werde und die Kritik des Berliner Ernährungsrates miteinfließen soll.[12]

Um auf neue Entwicklungen zu reagieren, bestehende Handlungsfelder zu überarbeiten und konkrete Maßnahmen umzusetzen, wird gerade an der Berliner Ernährungsstrategie 2.0 gearbeitet. Dafür soll ein zweiter Senatsbeschluss erwirkt werden. Für die Berliner Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz eröffnen sich dadurch weitere Chancen eine nachhaltige und faire Ernährungswende voranzutreiben.

Quellen:

BUND Landesverband Berlin (2022): Nachhaltige Ernährungswende in Berliner Kantinen: Wie kommt die ungeschälte Kartoffel in die Gemeinschaftsverpflegung? Diskussionspapier des BUND Arbeitskreis Nachhaltigkeit. Verfügbar: https://www.bund-berlin.de/service/publikationen/detail/publication/diskussionspapier-nachhaltige-ernaehrungswende-in-berliner-kantinen/. Zuletzt aufgerufen: 28.08.2023

Demografie Portal (2023): Bevölkerungszahl in Berlin. Verfügbar: https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/bevoelkerungszahl-berlin.html. Aufgerufen am: 28.08.2023

LebensMittelPunkte (2023). Verfügbar unter: https://lebensmittelpunkte-berlin.de/. Zuletzt aufgerufen am: 01.09.2023

Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (2023): Berliner Ernährungsstrategie. Verfügbar unter: https://www.berlin.de/ernaehrungsstrategie/. Zuletzt aufgerufen: 28.08.2023

Statista (2022): Höhe und Anteil der Treibhausgasemissionen durch die Lebensmittelproduktion weltweit 1990 und 2015. Verfügbar: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1275647/umfrage/treibhausgasemissionen-durch-lebensmittelproduktion/ Aufgerufen am: 30.08.2023

Zasada et al. (2019): Food beyond the city – Analysing foodsheds and self-sufficiency for different food system scenarios in European metropolitan regions. City, Culture and Society. Volume 16, Pages 25-35.

[1] Demografie Portal (2023)

[2] Zasada et al. (2019)

[3] Statista (2022)

[4] Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (2023)

[5] BUND Landesverband Berlin (2022)

[6] BUND Landesverband Berlin (2022)

[7] Zasada et al. (2019)

[8] LebensMittelPunkte (2023)

[9] BUND Landesverband Berlin (2022)

[10] Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (2023)

[11] Zasada et al. (2019)

[12] BUND Landesverband Berlin (2022)