UfU Informationen | Ausgabe 8 – März 2023 | Jonas Rüffer

Die Letzte Generation

Eine Einordnung der aktuellen Debatte mit John Rawls

Dürfen die das?

Sie sind nicht mehr zu übersehen. Die Klimaaktivisti der Gruppierung „Die letzte Generation“ und anderer Gruppen wie „Just stop oil“ machen durch umstrittene Demonstrationsformate wie Straßenblockaden und Museumsaktionen auf sich und die drohende Klimakrise aufmerksam und sind seit Wochen Teil einer breiten medialen Diskussion.

Hauptaugenmerk der medialen Diskussion liegt dabei nicht auf der Frage, wie die Ursache dieser  Demonstrationen bekämpft wird, sondern wie mit diesen Gruppierungen selbst umzugehen ist. Dabei gelingt nur wenigen eine sachliche Berichterstattung und eine sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik. Da aber anzunehmen ist, dass sich derartige Protestformen in Zukunft in Bezug auf den Klimawandel häufen werden – aktuell verschärft sich die Klimakrise und damit auch das politische Anliegen dieser Gruppierungen – ist eine fundierte Auseinandersetzung mit der Thematik vonnöten.

Die letzte Generation bei einer Straßenblockade

Ziviler Ungehorsam – Rawls Theorie der Gerechtigkeit

Zunächst ist es angebracht die theoretischen Grundlagen von zivilem Ungehorsam zu erläutern, da diese in der breiten medialen Öffentlichkeit kaum Einzug finden. Ziviler Ungehorsam ist kein neues Konzept. Ghandi, Martin Luther King Jr., die Anti-Atomkraft-Bewegung — sie alle beriefen sich auf zivilen Ungehorsam. Die Anfänge einer Definition des zivilen Ungehorsams reichen zurück bis Henry David Thoureau. Thoureau gilt nicht nur als Schöpfer des Begriffs sondern auch als Praktiker des zivilen Ungehorsams. 1846 weigerte Thoureau sich seine Kopfsteuer zu bezahlen und kündigte in seinen Worten seine Gemeinschaft mit den USA auf, da er mit der Sklaverei und dem Expansionskrieg gegen Mexiko nicht einverstanden war.[1] Thoureau verbrachte dafür eine Nacht im Gefängnis. Mit seinem 1849 veröffentlichen Aufsatz „The Resistance to Civil Government“ legte er den Grundstein für den Gedanken des zivilen Ungehorsams, auf den sich später viele Bewegungen beriefen. Seitdem ist das Konzept ein fester Teil von Gerechtigkeitstheorien und Diskussionen um Gehorsam und politischer Willensbildung.

Im folgenden Text soll zur Definition und Herleitung von zivilem Ungehorsam vor allem die Theorie von John Rawls verwendet werden. John Rawls ist einer der bekanntesten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, lehrte in Harvard und beschrieb zivilen Ungehorsam in seinem weltbekannten Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971.

John Rawls definiert den zivilen Ungehorsam als eine „(…) öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll.“[2]

Rawls setzt für seine Theorie eine fast gerechte Gesellschaft voraus, also eine Gesellschaft mit funktionierenden demokratischen Institutionen, Gewaltenteilung und Teilhabe der Zivilbevölkerung. Eine komplett gerechte Gesellschaft gibt es für Rawls nicht, denn auch einer gerechten Gesellschaft treten immer mal wieder Ungerechtigkeiten auf.

Diese fast gerechte Gesellschaft hat laut Rawls ein geltendes Gerechtigkeitsbewusstsein, das von der breiten Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert und getragen wird. Dieses Gerechtigkeitsbewusstsein kann als eine Art Bewusstsein, gemeinsame Werte oder Gefühl der Gesellschaft für „richtig“ und „falsch“ interpretiert werden. Wird dieses Gefühl durch Ungerechtigkeit gestört, handelt die Gesellschaft, um Gerechtigkeit wiederherzustellen. Auf Basis dieses Bewusstseins in der Gesellschaft baut Rawls seine Theorie über zivilen Ungehorsam auf.

Wenn die Grundsätze der Gerechtigkeit verletzt werden

Nicht jede Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft rechtfertigt zivilen Ungehorsam. In der fast gerechten Gesellschaft müssen laut Rawls auch ungerechte Gesetze akzeptiert werden, wenn diese ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit nicht überschreiten.[3] Jedoch versucht die Gesellschaft jederzeit, die Grundsätze der Gerechtigkeit zu wahren. Wird das Gerechtigkeitsbewusstsein durch ungerechte Gesetze gestört, gilt es dagegen vorzugehen, um die fast gerechte Gesellschaft wiederherzustellen.

Die Wahl der dafür legitimen Mittel knüpft Rawls an bestimmte Voraussetzungen. Um zivilen Ungehorsam ausüben zu können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

Erste Voraussetzung für Zivilen Ungehorsam sind laut Rawls, „(…) schwere Verletzungen des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes, des Grundsatzes der gleichen Freiheit, und (…) eklatante Verletzungen des zweiten Teil des zweiten Grundsatzes, des Grundsatzes der fairen Chancengleichheit.“[4]

Hier wird bereits deutlich, welche Verbindung zwischen der letzten Generation und dem zweiten Grundsatz der Chancengleichheit gezogen werden kann. Werden Chancengleichheit und der Grundsatz der gleichen Freiheit verletzt, sind das für Rawls derart schwere Verletzungen des Gerechtigkeitsbewusstseins der Gesellschaft, dass diese nicht hingenommen werden dürfen.

Zweite Voraussetzung für zivilen Ungehorsam ist für Rawls die Tatsache, dass andere Mittel wie gewöhnliche Appelle, legale Proteste und Demonstrationen zum Zweck der Unrechtsbehebung aufrichtig erfolgt, aber als gescheitert angesehen werden müssen.[5]

Auch hier lässt sich gedanklich schon ein Bezug zur letzten Generation herstellen, wenn man bedenkt, wie lange Wissenschaftler*innen bereits vor den Folgen des Klimawandels warnen, wie groß die Demonstrationen von Fridays for Future sind und wie stark wir weiterhin die Klimaziele von Paris verfehlen.

Da für Rawls ziviler Ungehorsam immer an das geltende Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft appelliert und auf Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft aufmerksam machen möchte, ist es für Rawls selbstverständlich, dass ziviler Ungehorsam in der Öffentlichkeit und gewaltlos stattfinden muss. Denn wer zivilen Ungehorsam betreibt, möchte die Menschen von der Aufrichtigkeit des eigenen Anliegens überzeugen: „Die völlige Offenheit und Gewaltlosigkeit ist ein Unterpfand der Aufrichtigkeit, denn es ist nicht leicht, jemand anderen von der Gewissenhaftigkeit seiner Handlungen zu überzeugen, (…).“[6]

Damit grenzt Rawls zivilen Ungehorsam auch zur militanten Aktion ab, man denke hier an Terrorgruppen wie die RAF: „(…) Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne unterscheidet sich eindeutig von militanter Aktion und Obstruktion, und er ist etwas völlig anderes als organisierter gewaltsamer Widerstand.“[7]

Durch den grundsätzlichen Appel an das Gerechtigkeitsempfinden innerhalb der Gesellschaft, ist die Akzeptanz von demokratischen und staatlichen Institutionen ein zentrales Merkmal des zivilen Ungehorsams. Im Gegensatz dazu erkennt der militante Widerstand die geltende Institutionen nicht mehr als gerecht an und hat das Vertrauen in die Gesellschaft verloren. Grundsatz des militanten Widerstands ist die Überzeugung, dass die Gesellschaft die allgemeine Gerechtigkeitsauffassung verloren hat oder diese falsch liegt. Deshalb gibt es für den militanten Wiederstand auch keine Möglichkeit mehr, durch zivilen Ungehorsam an den Gerechtigkeitssinn zu appellieren. Militanter Widerstand greift damit die Gesellschaft und das System als Ganzes an. Gleichzeitig ist der Militante auch nicht bereit, die gesetzlichen Folgen seiner Handlung auf sich zu nehmen, da er die Gesetze der Gesellschaft als ungerecht bezeichnet und damit nicht akzeptieren kann.[8] Diejenigen aber, die zivilen Ungehorsam ausüben, erkennen die geltende Gerechtigkeitsauffassung, die demokratischen Institutionen und die Folgen der eigenen Rechtsverletzung an: „(…) zur Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams beruft man sich (…) auf die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung, die der politischen Ordnung zugrunde liegt. Das Gesetz wird gebrochen, doch die Gesetzestreue drückt sich im öffentlichen und gewaltlosen Charakter der Handlung aus, in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen der Handlungsweise auf sich zu nehmen.“[9]

Der entscheidende Unterschied zwischen organisiertem gewaltsamen Widerstand und zivilem Ungehorsam liegt also in der bewussten Gesetzesübertretung innerhalb der gemeinschaftlich vereinbarten Regeln, ohne diese Regeln an sich in Frage zu stellen. Die Gesellschaft und ihr Gerechtigkeitssinn selbst werden nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern es wird versucht, genau diesen Gerechtigkeitssinn und die demokratischen Institutionen durch zivilen Ungehorsam zu schützen.

Hass, Hohn & Hetze – Der Aufschrei des politischen Establishments

Wendet man die Theorie Ralws auf das Handeln der letzten Genration an, ist es bedenklich, in welchem Maß diese Gruppierung aus Reihen der Politik für ihr Handeln verurteilt wird. Terrorismusvergleiche, Forderungen nach Haftstrafen und Bezeichnungen wie „Klima-Kriminelle“ zeugen nicht nur von mangelnder Kenntnis über zivilen Ungehorsam, sondern weisen auf, dass die letzte Generation einen empfindlichen Nerv beim politischen Establishment trifft, dass offenbar nicht mehr in der Lage ist, Dissens aus der Bevölkerung auszuhalten.

Die Gruppierung ist bisher eindeutig dem zivilen Ungehorsam zuzuordnen und keinesfalls dem militanten Widerstand. Die letzte Generation hat sich die Gewaltfreiheit auf die Fahnen geschrieben. Diese steht an Platz 1 der von der Gruppierung vertretenen Werte.[10] Wer sich an die RAF erinnert oder einmal mit den Suffragetten beschäftigt hat, wird schnell zu der Erkenntnis kommen, dass zwischen einer Straßenblockade, der Versendung von Briefbomben und der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten ein großer Unterschied in der Radikalität der gewählten Mittel liegt, dies werden auch Kritiker der letzten Generation einsehen müssen.

Dementsprechend sind Aussagen wie die vermeintliche Warnung vor einer Klima-RAF wie sie von Alexander Dobrindt am 06.11.2022 in der Bild Zeitung getätigt wurde[11] eindeutig fehl am Platz. Auch Vorwürfe wie der von Sebastian Czaja, Vorsitzender der FDP Berlin, vormals in der CDU – er bezeichnete die Aktivisti am 2. November auf Twitter als Klima-Kriminelle, die den Interessensausgleich hassen, die arbeitende Mitte in Geiselhaft nehmen und demokratische Institutionen verachten würden[12] – ignorieren die Tatsache, dass die letzte Generation bisher nicht die Systemfrage stellt, keine Revolution fordert und sich mit ihren Forderungen an die demokratisch legitimierte Regierung wendet. Sie handelt somit wie in Rawls Definition erläutert, innerhalb des Gerechtigkeitssinns der Gesellschaft und stellt diesen nicht infrage. Diese Ansicht wird sogar vom Präsidenten des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang bestätigt: „Extremistisch seien Gruppen immer dann, „wenn der Staat, die Gesellschaft, die freiheitlich demokratische Grundordnung infrage [gestellt wird]. (…) Und genau das tun die Leute ja eigentlich nicht.“[13]

Die Furcht vor der Demokratie

Neben unangemessenen Vergleichen mit terroristischen Vereinigungen gibt es einen breiten politischen Konsens, bezüglich der Forderung nach härteren Strafen für die Aktivisti. Am Donnerstag den 10.11.2022 diskutierte sogar der Bundestag über härtere Strafen für Klimaaktivisti.[14] Selbst Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann schließt in der Bild-Zeitung die Möglichkeit von Haftstrafen nicht aus und fordert den Rechtsrahmen hierfür auch zu nutzen.[15] Auf die Spitze treibt es der hessische Justizministers Roman Poseck (CDU), der es unter Umständen für möglich hält, die Aktivisti wie Terroristen zu bestrafen.[16] Zu derartigen Berichterstattungen ist Rechtsprofessor und ehemaliger Vorsitzender des zweiten Senats des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Thomas Fischer zu zitieren: „(…) es immer wieder deprimierend zu erleben, dass nicht unerhebliche Teile der Presse den Justizministern eine unmittelbare Durchgriffsmacht auf die Strafgerichte und Durchgriffspraxis auf die Staatsanwaltschaften zuschreiben, also eine glatt verfassungswidrige Staatspraxis insinuieren.“[17]

Bei der Diskussion um das richtige Strafmaß für die Aktionen der letzten Generation, kommt man um eine Feststellung nicht herum: Wer mit Forderungen nach härteren Strafen für die Aktivisti um sich wirft, muss sich nicht nur die Frage gefallen lassen, wie härtere Bestrafung zur Lösung des bestehenden Konflikts – der Klimawandel und das von den Aktivisten angeprangerte Nichthandeln der Regierung sind durch das bloße Wegsperren der Aktivisti nicht aus dem Weg geräumt – beitragen sollen, sondern auch die kritische Frage, was dies über das eigene Grundverständnis von politisch handelnden Bürger*innen aussagt.

Die letzte Generation besteht aus Menschen, die mit ihren Blockaden politischen Protest ausüben, weil sie auf einen Missstand in der Gesellschaft hinweisen wollen. Das Gerechtigkeitsempfinden dieser Menschen ist massiv gestört (siehe den Abschnitt im Klimaangst im Vorwort dieser Ausgabe) und sie wählen bewusst den zivilen Widerstand, um die Gesellschaft auf diese Schieflage aufmerksam zu machen. Wer dabei sofort nach harten Strafen ruft, zeigt ein bedenkliches Verständnis von politischer Staatsbürgerschaft.

Eine Demokratie zeichnet sich vor allem durch politische Teilhabe aller Menschen aus, die gewissen Konditionen (Staatsbürgerschaft, Alter, etc.) erfüllen. Die Art dieser Konditionen und der Teilhabe unterscheidet sich in den verschiedenen demokratischen Systemen. Die größte Gemeinsamkeit dieser Systeme ist mit Sicherheit die Etablierung von regelmäßig stattfindenden Wahlen. Diese Wahlen drücken nicht nur den politischen Willen der Bürger*innen aus, sondern machen den politischen Staatsbürger auch zum Souverän gegenüber der Regierung und geben dieser Legitimität.

Diese Souveränität ist jedoch keineswegs zeitlich auf den in regelmäßigen Abständen stattfindenden Wahltag beschränkt, sondern drückt sich durch verschiedene Rechte der politischen Teilhabe, wie beispielsweise dem Demonstrationsrecht, zu jedem Zeitpunkt aus. Die der Regierung erteilte Legitimität und damit auch Legitimität für Gesetze und anderes politisches Handeln muss jederzeit wiederrufen werden können, ansonsten existiert die Souveränität des Bürgers nur zum Schein. Étienne Balibar, französischer Philosoph, beschreibt diese wichtige Kondition für politische Staatsbürgerschaft in seinem Text Widerstand Aufstand Gehorsam 2009: „Darin besteht das Paradox der politischen Staatsbürgerschaft: Um auf eine Weise, die tatsächliche Macht zum Ausdruck bringt; Ja sagen zu können, muss man gelegentlich und womöglich regelmäßig Nein sagen.“[18]

Wer also politischen Protest ausübt – auf welche Art und Weise ist für diese Feststellung irrelevant – übt damit zunächst einmal aktive politische Staatsbürgerschaft aus. Erfolgt dieses aktive Ausüben der politischen Staatsbürgerschaft innerhalb unserer demokratischen Rechtsprinzipien – ziviler Ungehorsam ist ein Teil davon – ist dies als Teil der demokratischen politischen Teilhabe anzusehen. Balibar geht in seiner Argumentation sogar noch weiter: Dieses aktive Ausüben der Staatsbürgerschaft ist für Balibar in einer Demokratie, nicht nur eine Bürgerpflicht, sondern am Ende auch als Legitimierung und Stärkung des politischen Systems anzusehen: „Wenn einige, die zunächst niemals die Gesamtheit der Bürger sind und am Anfang sogar nur eine winzige Minorität sein dürfen, obwohl sie objektiv im allgemeinen Interesse handeln, es nicht auf sich nehmen, zu opponieren und die Funktion des Dissidenten auszuüben, dann gibt es nur passive Bürger und schließlich überhaupt keine Bürger mehr, sondern nur noch mehr oder weniger teilnehmende, mehr oder weniger leicht „regierbare“ Verwaltungsbürger oder Untertanen der Macht.“[19]

Balibar argumentiert hier also, dass diejenigen, die im demokratischen System ihren Widerspruch üben, die Demokratie selbst am Leben erhalten und vor dem Niedergang in ein reines System des Verwaltens unmündiger Bürger*innen bewahren.

Diese Ansicht vertrat auch John Rawls: „Zusammen mit regelmäßigen freien Wahlen und unabhängigen Gerichten, die die (nicht notwendig geschriebene) Verfassung auszulegen haben, trägt sparsamer und abgewogener ziviler Ungehorsam zur Erhaltung und Stärkung der gerechten Institutionen bei.“[20]

Die Mitglieder der letzten Generation sind also politisch handelnde Staatsbürger*innen und dementsprechend als solche zu behandeln. Für die Fragestellung nach dem richtigen Umgang mit der Gruppierung ist es also irrelevant ob das gewählte Mittel der Protestform dem Klimaschutz nun einen Bärendienst erweist oder nicht. Solange sich die letzte Generation der Öffentlichkeit und Gewaltfreiheit verschrieben hat, handeln die Mitglieder innerhalb der durch Rawls gelegten Grundsätze. Insofern ist auch eine Kriminalisierung, wie von vielen gefordert, zwecklos: „Um sich als Gemeinschaft von Bürgern zu retten bzw. am Leben zu bleiben, muss sich die Polis in Konfrontation mit ihren eigenen Mitgliedern dem Risiko der Zerstörung oder der Anarchie aussetzen, wovor nichts sie bewahren kann, vor allem nicht die Kriminalisierung der Dissidenz oder der Versuch, in jeder Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen gleich Verrat zu wittern.“[21]

Tatsächlich muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden, welches Ziel mit härteren Strafen hier verfolgt wird. Was sagt es über eine Gesellschaft aus die Menschen, die sich bisher störend aber gewaltfrei für eine bessere Zukunft einsetzen lieber hinter Gittern sieht, als die angeprangerte Ungerechtigkeit zu untersuchen und ihre Verhaltensweise zu ändern?

Was wenn sie sich radikalisieren?

Die Kriminalisierung der letzten Generation, in dieser Hinsicht hat Balibar recht, bewahrt unsere Gesellschaft nicht davor, uns mit der letzten Generation und ihren Forderungen auseinanderzusetzen und damit auch den aktuellen Gerechtigkeitssinn innerhalb unserer Gesellschaft auf den Prüfstand zu stellen. Mehr noch. Wir sollten uns die Frage stellen, welche Auswirkungen eine zunehmende Kriminalisierung der Gruppe auf die Gesellschaft selbst und derartige Gruppierungen haben könnte. Welches Signal senden wir mit der zunehmenden Kriminalisierung der letzten Generation an die Menschen, die unter Klimaangst leiden und wissenschaftlich begründet befürchten, in Zukunft keine akzeptablen Lebensgrundlagen mehr vorzufinden?

Befürworter der Argumentation, die letzte Generation sei nicht weit entfernt von einer terroristischen Vereinigung, argumentieren oft, dass die Studentenbewegung aus welcher die RAF hervorging zunächst auch gewaltfrei gewesen sei. Tatsächlich liegt der Gedanke, dass sich die letzte Generation radikalisieren könnte, sollte das von den Aktivisti angeprangerte Problem nicht gelöst werden, gar nicht so fern. Jeder und jede kann sich vorstellen, das die verzweifelten Menschen, die sich an Straßen kleben bei weiterer Untätigkeit der Regierung irgendwann radikalere Mittel in Betracht ziehen und dann zu militantem Widerstand übergehen. Jedoch ist der gezogene Umkehrschluss, harte Strafen würden dies verhindern können, falsch.

Es wurde bereits erörtert, dass Rawls den zivilen Ungehorsam vom militanten Widerstand vor allem darin unterscheidet, dass erster das geltende Rechtssystem und die demokratischen Institutionen akzeptiert, während zweiter das Vertrauen in eine korrekte Gerechtigkeitsauffassung der Gesellschaft verloren hat. Noch haben die Aktivisti der letzten Generation also ein gewisses Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung und Politiker*innen, denn ihre Protestformen appellieren direkt an die Bundesregierung. Härtere Strafen wie beispielsweise Haftstrafen und Einträge ins Vorstrafenregister gefährden nicht nur die Lebensentwürfe dieser Menschen, sondern würden die bisher friedlich handelnden Menschen aus der Gemeinschaft ausschließen. Das damit gesendete Signal könnte fatal sein. Um es mit Rawls Worten zu sagen: „Der zivile Ungehorsam „(…) versucht Gewalt zu vermeiden (…), weil sie ein endgültiger Ausdruck für einen Standpunkt wäre. (…). Wenn der Apell fehlschlägt, kann man sich manchmal überlegen, ob man zu gewaltsamen Widerstand greifen soll.“[22]  Was Rawls hier postuliert ist der Übergang einer Gruppierung von zivilem Ungehorsam zu militantem Widerstand, wenn diese das Gefühl bekommt, die Apelle schlagen fehl. Genau dieses Fehlschlagen droht, wenn unsere einzige Antwort auf die letzte Generation Haftstrafen sind. Die politischen Staatsbürger*innen werden damit kriminalisiert und die politische Bedeutung des zivilen Ungehorsams negiert. Prof. Dr. Katrin Höffler, Rechtsprofessorin an der Universität Leipzig gab am 25. November in der taz zu dieser Fragestellung ein Interview mit folgendem Inhalt: „Gibt es kein Kommunikationsangebot, wird das zu einer weiteren Exklusion von Klimaaktivist:innen und zu Rebellionsverstärkung führen. Noch lehnt die Letzte Generation den Staat ja gar nicht ab, sondern fordert ihn zum Handeln auf. Wenn der Staat den Aktivist:innen aber das Gefühl gibt, dass er sie weder anhört noch versteht, werden die Aktivist:innen auf Distanz gehen. (…) Härtere Strafen führen zu einer Verstärkung der Exklusion. Die Ak­tivist:innen spüren eine sogenannte anomische Situation, das heißt, dass ihr Ziel, den Klimawandel aufzuhalten, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu erreichen ist. Trotz aller Demonstrationen und Petitionen ist der Staat bisher untätig geblieben. Wenn die Aktivist:innen nun zu anderen Mitteln greifen, indem sie sich zum Beispiel auf einer Straße festkleben, geschieht das auch aus Verzweiflung heraus.“[23]

Es ist eindeutig Aufgabe der Regierung das Vertrauen der letzten Generation in unsere Institutionen und Demokratie zu stärken und diese Menschen nicht durch unüberlegte Diffamierung und Kriminalisierung in den Extremismus zu treiben, sondern die Ursache des zivilen Ungehorsams zu beheben. Denn, „wenn berechtigter ziviler Ungehorsam den Bürgerfrieden zu gefährden scheint, dann trifft die Verantwortung nicht die Protestierenden, sondern diejenigen, deren Machtmissbrauch, einen solchen Widerstand rechtfertigt.“[24]

Gleichzeitig ist es auf Aufgabe der Gesellschaft, diese Menschen in die Mitte der Gesellschaft zu holen, Gesprächsangebote zu machen und auf das gestörte Gerechtigkeitsempfinden dieser Menschen einzugehen. Wer sich berechtigt, eine überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler*innen bestätigt dies, Sorgen um die eigene Zukunft und die unserer Gesellschaft macht und in zivilem Ungehorsam die letzte Möglichkeit sieht noch etwas zu bewegen, gehört nicht an den öffentlichen Pranger.

Quellenverweise:

[1] Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.40

[2] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.109

[3] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.107

[4] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.118

[5] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.120

[6] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.113

[7] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.113

[8] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.114

[9] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.111

[10] https://letztegeneration.de/mitmachen/werte-protestkonsens/ (Abgerufen am 13. März 2023)

[11] Ricarda Lang: Letzte Generation ist keine „Klima-RAF“, ZEIT Online, 09.11.2022

[12] Sebastian Czaja, Twitter, 02.11.2022, https://twitter.com/SebCzaja/status/1587786597126139904

[13] Spiegel Online, Verfassungsschutzpräsident stuft “Letzte Generation” nicht als extremistisch ein, 17.11.2022

[14] Constanze von Bullion, Süddeutsche Zeitung, Bundestag verurteilt Protest der „Letzten Generation“, 10.11.2022

[15] Zeit Online, Bundesjustizminister halt Haftstrafen für Klimaaktivisten für möglich, 02.11.2022

[16] Hessenschau, Justizminister hält Terroranklagen gegen Klima-Aktivisten für möglich, 07.11.2022

[17] Thomas Fischer, LTO, Müssen „Klima-Kleber in den Knast“?, 04.11.2022

[18] Étienné Balibar, Wiederstand Aufstand Ungehorsam 2009, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.294

[19] Étienné Balibar, Wiederstand Aufstand Ungehorsam 2009, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.294

[20] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.123

[21] Étienné Balibar, Wiederstand Aufstand Ungehorsam 2009, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.295

[22] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.112

[23] Timm Kühn, TAZ, Das Strafrecht ist keine Lösung, Interview mit Katrin Höffler, 25.11.2022

[24] John Rawls 1971, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Ziviler Ungehorsam, Texte von Thoreau bis Occupy 2017, S.128