UfU Informationen | Ausgabe 4 – Dezember 2021 | Dr. Christoph Herrler
„Haltet die Freiheit hoch!“ – Okay, aber welche?
Gedanken zu Klimaschutz, Freiheit und Generationengerechtigkeit Nov.24
Anlässlich des 35-järigen Jubiläums des Mauerfalls am 9. November 1989 sind in Berlin vielerorts Plakate mit dem Slogan „Haltet die Freiheit hoch!“ zu sehen gewesen. Tausende Plakate zu diesem Thema sollten entlang des ehemaligen Mauerverlaufs installiert werden. Aber sind sich alle Plakate auch im Verständnis von Freiheit einig? Schließlich gibt es verschiedene Antworten auf die Frage, was Freiheit eigentlich ist. In diesem Beitrag möchte ich mithilfe des Freiheitsbegriffs – oder besser gesagt: mithilfe möglicher Freiheitsbegriffe – einen Blick auf zwei einschneidende politische Entwicklungen Anfang November 2024 werfen.
Am 5. November wird in den USA Donald Trump zum 47. Präsidenten gewählt. Dieses Mal erringt er sogar die Mehrheit des „popular vote“, gewinnt also anders als bei seinem Sieg gegen Hillary Clinton auch in absoluten Zahlen mehr Stimmen als seine Gegnerin Kamala Harris und nicht nur mehr Stimmen im Electoral College. Die Mehrheit der US-Amerikaner*innen hat also offenbar kein Problem damit, dass nun eine Figur erneut als mächtigste Person ins Weiße Haus einzieht, die ein rücksichtsloses, egozentrisches Freiheitsverständnis verkörpert. Ich halte es für eine plausible Vermutung, dass sich die Popularität Trumps auch damit erklären lässt, dass viele in ihm genau das sehen: Jemanden, dem bis dato übliche politische, rechtliche sowie moralische Gepflogenheiten schlichtweg egal sind; jemanden, der sich von jeglichen Erwartungen an eine zivilisierte, rücksichtsvolle und verantwortlich handelnde Person freimacht und genau dies als Freiheitsideal inszeniert. Nach dem Motto: Ich kann tun und sagen, was ich möchte – und niemand soll mich dabei stören, weder Justiz noch die Fakten und schon gar nicht die „woke“ Gegenseite. Dieses Zerrbild einer Freiheit von jeglichen Einschränkungen steht hinter dem Wunsch nach der Führung durch einen starken Mann (offensichtlich nicht durch eine starke Frau), der leider nicht nur in den USA zu beobachten ist. Dieses libertäre Verständnis von Freiheit ist freilich nur eine Freiheit der Mächtigen und sehr wohl mit teils schmerzhaften Einschränkungen verbunden – allerdings betreffen diese schwächere, marginalisierte Gruppen, darunter unter anderem auch die zahlenmäßig sehr große Gruppe der Frauen. Soll man diese Freiheit hochhalten? Ich hoffe, dass es für ein „Nein“ auf diese Frage nicht nötig ist, auf die Unzufriedenheit mit den schwierigen Lebensbedingungen unter autokratischen Regimen zu verweisen, die in Deutschland 1989 im Mauerfall mündete.
Am 6. November wird in Deutschland endgültig klar, dass die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP zerbricht. Ohne hier in das Gewirr aus Ursachen, Anlässen und Schuldzuweisungen einsteigen zu wollen ist festzuhalten, dass dem von Finanzminister Christian Lindner vorgelegten Papier „Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ eine zentrale Rolle bei dieser Entwicklung zukommt. Darin spricht er sich unter anderem für die „Abschaffung von unnötigen klimapolitischen Regulierungen und Subventionen“ (S. 10) aus. Zentrale Anliegen des Konzepts sind Vorschläge zur Kreation des titelgebenden Wirtschaftswachstums sowie das Beharren auf der Schuldenbremse, die als „Garant von Generationengerechtigkeit“ (S. 2) bezeichnet wird. Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, inwieweit die von Lindner vorgeschlagenen Maßnahmen richtig oder für die Koalitionspartner provozierend sind; stattdessen hat mich der Begriff der Generationengerechtigkeit getriggert, der in Deutschland mit Artikel 20a des Grundgesetzes und damit mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz 2021 verbunden ist.
Ebendieser Beschluss unterstreicht in Leitsatz 4 die Schutzfunktion der „Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung“; die durch Artikel 20a erforderliche Minderung von Treibhausgasemissionen darf nicht unverhältnismäßig in die Zukunft verschoben und somit künftigen Generationen aufgebürdet werden. Dies macht deutlich, dass dem Grundgesetz (zumindest in diesem Kontext) kein libertäres Verständnis von Freiheit zugrunde liegt. Denn eine libertär verstandene Freiheit würde die Benachteiligung künftiger Generationen wohl kaum verhindern, sondern umgekehrt eher eine egoistische Herangehensweise der gegenwärtigen Generationen befördern. Es ist daher zu erwarten, dass der internationale Klimaschutz unter Trump deutliche Rückschritte macht. Das Grundgesetz möchte hingegen sicherstellen, dass gegenwärtige und künftige Generationen gleichwertig behandelt werden. Die Freiheit der gegenwärtigen Generation darf nicht auf unverhältnismäßig große Kosten der (Freiheit der) künftigen Generationen gehen. Das Grundgesetz verbindet also Handlungsfreiheit mit Gleichwertigkeit. Die Freiheit des einen sollte nicht unverhältnismäßig zulasten der Freiheit des anderen gehen.
Dieses Freiheitsverständnis und besagte Gleichwertigkeit sind aus ethischer Sicht eine Grundlage von Generationengerechtigkeit. Wie sollte umgekehrt etwas als gerecht gelten, das eine Diskriminierung aufgrund des Geburtszeitpunkts beinhaltet? In der klimaethischen Debatte ist nahezu unstrittig, dass eine rein zeitliche Bevorzugung gegenwärtiger Interessen unangebracht ist – also eine Bevorzugung gegenwärtiger Interessen allein deshalb, weil sie gegenwärtig vorhanden sind und künftige Interessen erst in Zukunft relevant werden. Übersetzt auf Klimaschutz bedeutet das: Gegenwärtige Belastungen, die klimapolitische Maßnahmen mit sich bringen, sind abzuwägen gegen die Belastungen in der Zukunft bei ausbleibendem Klimaschutz – und hier sollte es kein (moralisches) Primat der Gegenwart geben. Ebenso wenig sollte übrigens ein Primat der Zukunft vorherrschen; die gegenwärtige Generation muss sich also nicht für folgende Generationen aufopfern. Als Mindestmaßstab, inwieweit Belastungen als noch erträglich scheinen, bietet sich etwa die Sicherstellung elementarer Menschenrechtsansprüche an.
Der Bruch der Ampel ist nicht zuletzt bedingt durch eine Diskrepanz darüber, wie intertemporale Freiheitssicherung und Generationengerechtigkeit in Deutschland erreicht werden sollen. Dies trifft zumindest dann zu, wenn man allen Beteiligten ein Anstreben dieser Ideale unterstellt. Versteht man wie Lindner und die FDP die Schuldenbremse als Garant der Generationengerechtigkeit, so wird die Handlungsfreiheit künftiger Generationen vorrangig finanziell interpretiert. Demnach wäre eine Generation, die finanzielle Altlasten vorangegangener Generationen mitschleppen und entsprechende Zinslasten bedienen muss, nicht frei in ihren Entscheidungen. Demgegenüber steht die Position, diese Handlungsfreiheit künftiger Generationen insbesondere danach zu beurteilen, inwieweit sie mit Blick auf Klimawandel und sozialen Frieden funktionierende (Infra-)Strukturen und (Umwelt-)Bedingungen vorfindet. So gesehen liegt nicht unbedingt ein grundlegend verschiedenes Freiheitsverständnis vor, sondern eine Meinungsverschiedenheit darüber, wie Freiheitsvoraussetzungen am besten sichergestellt werden sollen. Auch deshalb ist meiner Meinung nach das Zusammenbrechen der Ampel-Regierung weniger dramatisch als die erneute Wahl von Trump.
Das bedeutet freilich nicht, dass das vorzeitige Ende der Legislaturperiode keine schwerwiegenden Probleme mit sich bringt: Es besteht die Gefahr, dass das angestrebte Wirtschaftswachstum (ein Fokus darauf ist für den anstehenden Wahlkampf zu erwarten) mit massiven Einschränkungen beim Klimaschutz erkauft werden soll. Dies wäre sicher nicht im Sinne der Generationengerechtigkeit und der intertemporalen Freiheitssicherung. Viele Umwelt- und Klimaschutzprojekte (nicht zuletzt des UfU) sind zudem abhängig davon, dass der Bundestag einen Haushalt verabschiedet hat – was derzeit weiterhin nicht der Fall ist und sich wohl in naher Zukunft auch nicht ändern wird. Und freilich sind auch die Deutschen nicht davor gefeit, in ihrer Mehrheit den Verlockungen eines libertären Freiheitsverständnisses und des Autoritarismus (entsprechende politische Angebote gibt es ja bereits) zu erliegen. Bei den kommenden Bundestagswahlen sollte sich daher jede*r klar darüber werden, welche Freiheit sie*er hochhalten möchte: eine egozentrische, rücksichtslose Freiheit oder eine nachhaltige, solidarische Freiheit. Welche von beiden der Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit zuträglicher ist, sollte hoffentlich deutlich geworden sein.
Quellenverzeichnis:
- https://www.mauerfall35.berlin/
- Damit ist nicht gesagt, dass Trump in allen Politikbereichen libertär agiert; seine angekündigte Wirtschaftspolitik, die stark in Richtung Protektionismus zu gehen scheint, wird eher nicht mit dem Adjektiv ‚libertär‘ beschrieben werden können. Zudem kennt auch der Libertarismus verschiedene Ausrichtungen und Strömungen, denen meine Verschlagwortung hier zugegebenermaßen nicht gerecht wird. Die grobe Unterscheidung, an der ich mich hier orientiere, ist diejenige zwischen ‚liberty‘ (eher den US-Republikanern zugerechnet) und ‚freedom‘ (eher den US-Demokraten zugeordnet).
- https://www.fdp.de/sites/default/files/2024-11/wirtschaftswende-deutschland.pdf
- https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html
- https://www.sueddeutsche.de/wissen/trump-klimaschutz-klimavertraege-li.3143196?reduced=true
- Dafür, dass Parteien oft Politik mit Blick auf ihre vermutete (gegenwärtige) Kernklientel machen, finden sich selbstverständlich zahlreiche Beispiele (einigen Schuldzuweisungen im Scheidungsdrama, etwa von Scholz an Lindner, liegt dieser Vorwurf zugrunde).
- Unterschiedliche Auffassungen gibt es aber sehr wohl bei der Auswahl der geeignetsten Maßnahmen, darunter unter anderem bei der Frage, wie stark der Staat in die unternehmerische Freiheit eingreifen sollte.
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