UfU Informationen | Ausgabe 13 – Januar 2024 | Jonas Rüffer

Waffenlieferungen und Kriegsdienstverweigerung

Ein moralisches Dilemma in Zeiten der Polykrise

Wie im Vorwort bereits geschrieben, wird unser Leben aktuell von gewaltigen Krisen, insbesondere Kriegen begleitet. Zwei Konflikte gehen uns aufgrund unserer Vergangenheit oder geographischer Nähe besonders nahe. Die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern und der Krieg in der Ukraine. Mit diesen beiden Kriegen gehen insbesondere moralische Fragen einher, welche unser Gewissen vor Herausforderungen stellen. Die Frage nach der richtigen Entscheidung wird zunehmend schwieriger, je mehr Bomben fallen, je mehr Menschen sterben, je radikaler gegeneinander vorgegangen wird.

Inzwischen rütteln diese Kriege so fest an unseren moralischen Grundsätzen, dass sie uns zu zerreißen drohen. Und auch, wenn viele Menschen zu der Frage nach Waffenlieferungen, Bombardements des gegnerischen Territoriums oder der Rechtmäßigkeit dieser oder jener Kriegshandlung Meinungen haben, fehlt es oft an fundierter Argumentation für diese Meinung. Was bleibt, ist ein Gefühl der Unsicherheit, ein Gefühl des Mitansehens von Gräueltaten in der Welt, ohne dass der eigene moralische Kompass eine eindeutige Antwort gibt.

Ein Beispiel dafür ist der anhaltende Krieg in der Ukraine und die Diskussion um Waffenlieferungen. Konsens ist: Die Ukraine wird durch Russland völkerrechtswidrig angegriffen. Mit welcher Begründung und welchen Anteil der Westen durch vermeintliches Ignorieren von berechtigten oder nicht berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands hat, sei dahingestellt. Fest steht, Russland marschiert in die Ukraine ein und nicht umgekehrt. Damit verletzt Russland das Territorium eines souveränen Staates und ist für diesen Krieg verantwortlich. Dürfen wir der Ukraine also Waffen liefern, damit sie sich rechtmäßig verteidigen kann? Völkerrechtlich ist die Sache vorerst eindeutig. Ja, dürfen wir. Darf mit diesen Waffen auch russisches Territorium angegriffen werden? Auch hier ist das Völkerrecht eindeutig. Ja, die Ukraine darf russische Militäranlagen innerhalb Russlands angreifen.

Auf der moralischen Ebene wird das Liefern von Waffen an eine Kriegspartei bereits schwieriger und erfordert genaues Hinsehen und Differenzierung. Abgesehen von absoluten Ansichten, die jegliches Töten unabhängig davon, ob es sich um Selbstverteidigung handelt oder nicht, ablehnen, dürfte die Unterstützung der Ukraine mit Waffen in moralischem Einklang mit unserem Werteverständnis stehen. Selbst Pazifisten wie Albert Schweizer, welche den Krieg als unweigerlichen Weg in die Unmenschlichkeit bezeichnen, gestehen Ländern das Recht zu, sich zur Selbstverteidigung bereit zu halten, solange noch kein weltweiter Frieden herrscht.1 Das häufigste Argument für Waffenlieferungen ist der Freiheitskampf der Ukrainer selbst. Wir sehen in der Ukraine ein Land, welches von seinem Nachbarn überfallen wird und dass sich bisher tapfer gegen diesen Angriff zur Wehr setzt. Freiheit und Gerechtigkeit sind in dieser Argumentation nicht selten verwendete Begriffe und knüpfen an unseren eigenen Freiheitswillen und den Wunsch nach Gerechtigkeit an. Wer ist, als er die Geschichte von David gegen Goliath gelesen hat, nicht für David gewesen?

Diese moralische Eindeutigkeit gerät jedoch ins Wanken, wenn wir von Berichten lesen, dass ukrainische Männer untertauchen, sich verstecken, fliehen, nicht mehr aus dem Haus gehen, versuchen, an Ausmusterungsdokumente zu kommen und sich verzweifelt jeglichem Behördenkontakt entziehen. Am 10. Januar meldet die Zeit, dass der ukrainische Geheimdienst mit der Polizei 600 Durchsuchungen in allen Teilen des Landes durchgeführt hat, um Schlepperbanden dingfest zu machen, die wehrfähige Männer außer Landes bringen. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nur in Ausnahmefällen verlassen.2 Ja, es gibt Männer in der Ukraine, die nicht kämpfen möchten. Doch die Ukraine erkennt bis auf wenige Ausnahmen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aktuell nicht an. Wer sich der Musterung und dem Kriegseinsatz in der Ukraine widersetzt, rechnet mit Gefängnis oder der Zwangsrekrutierung. Dürfen wir unter diesen Umständen trotzdem Waffen an die Ukraine liefern, obwohl sie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt? Wir geraten an einen Punkt, an welchem wir kollektive Rechte und Pflichten gegen individuelle Rechte abwägen müssen.

Fangen wir mit dem Kollektiv an, welches der ukrainische Staat als Gesamtheit repräsentiert. Ein Staat hat laut Artikel 51 der UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung. Moralphilosophisch wird hierbei immer wieder auf die Theorie eines „Bellum Iustum“ also eines gerechten Krieges zurückgegriffen. Von Sokrates bis Kant gibt es zahlreiche philosophische Vertreter, welche zur Berechtigung von Staaten zur Kriegsführung gearbeitet haben. Laut Kant gibt es ein Recht zum Krieg, ein Recht im Krieg und ein Recht nach dem Krieg. Die Selbstverteidigung eines angegriffenen Staates fällt für Kant unter dieses Recht zum Krieg und ist deswegen im Grunde gerecht. Um dieses Recht des Kollektivs zu wahren, darf der ukrainische Staat also seine Bürger*innen mit Waffen ausstatten und in einer militärischen Kommandostruktur die Verteidigung seines Territoriums vornehmen.

Die deutsche Bevölkerung, repräsentiert durch die Bundesregierung, hat ebenfalls kollektive Rechte, welche durch Staatsziele formuliert werden und in diesem Krieg infrage gestellt werden. Sicherheit, territoriale Integrität und die Einhaltung von völkerrechtlichen Verträgen sind nicht nur berechtigte Interessen des ukrainischen Staates sondern auch des Deutschen. Wer garantiert uns, dass Putin nach der Ukraine nicht auch noch das Baltikum und weitere Staaten überfällt? Mit dem Angriff auf die Ukraine stellt Putin die bestehenden Grenzen souveräner Staaten in Frage und damit gibt es aus Sicht des deutschen Staates die Verpflichtung zu handeln und die Ukraine zu unterstützen. Auf welche Art und Weise diese Unterstützung erfolgt (Sanktionen, Waffenlieferungen, Sendung von Hilfsgütern oder sogar Truppen) ist dabei größtenteils an strategische Überlegungen gekoppelt.

Auf der Gegenseite stehen Rechte einzelner Personen. Welche Rechte und Pflichten Individuen in einer Gesellschaft haben, wann diese gerecht ist und wann es das Recht Einzelner ist, gegen die eigene Gesellschaft aufzubegehren, wurde von zahlreichen Philosophen behandelt. Seien es Thoreau, Rawls, Kant oder Arendt. Das eigene Gewissen, das Recht auf Integrität und insbesondere die Verantwortung für das eigene Handeln sind bedeutende moralphilosophische Konzepte. Immanuel Kant ist ein starker Vertreter der Meinung, dass Menschen nur freiwillig am Krieg teilnehmen dürfen: „daß zum Töten, oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.“3 Diese Aussage von Kant bezieht sich auf seine Ansicht, dass es grundsätzlich falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu gebrauchen (Instrumentalisierungsverbot). Der bloße Gebrauch eines Menschen als Maschine oder Werkzeug kann kein Zweck sein, in welchen der zu diesem Zweck Gebrauchte freiwillig einwilligen kann. Kant formuliert hiermit auch die Rechte an der eigenen Person. Sein kategorischer Imperativ gilt als Grundlage für die Forderung nach eigenständigem Denken und der Abwägung des moralisch Richtigen. Auch Hannah Arendt ist eine bekannte Vertreterin der Argumentation, dass Menschen für ihre Taten selbst verantwortlich sind und sich nicht als Rädchen im System hinter eine Kollektivschuld verstecken können. Insbesondere vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges formulierte sie ihre Theorie von der Banalität des Bösen und warf Drahtziehern des NS-Terrorregimes die Abwesenheit bzw. die Verweigerung von Denken vor. Das Böse, so formulierte sie es in ihrer Theorie zur Banalität des Bösen ist niemals tiefgründig, sondern entsteht, indem sich der Mensch seiner Fähigkeit zum tiefen Nachdenken im kantianischen Sinne verweigert. Ihrer Ansicht nach können und dürfen sich Menschen nicht von ihrer eigenen Verantwortung freimachen, indem sie auf ein Kollektiv verweisen. In ihrer späteren Arbeit, beispielsweise in ihrem Essay zu zivilem Ungehorsam, verteidigt sie aus diesem Grund auch die zu diesem Zeitpunkt rechtswidrigen Proteste und Aktionen der Kriegsdienstverweigerer im amerikanischen Vietnamkrieg. Für sie war klar, Menschen verbrannten aus Gewissensgründen ihre Einberufungsbefehle zum Vietnamkrieg und handelten damit im Einklang mit ihrer eigenen Verantwortung für das bevorstehende Handeln, sollten sie der Einberufung Folge leisten.

Die Rechte des Individuums und auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung hat inzwischen Einzug in zahlreiche Verfassungen gehalten und ist nicht mehr nur moralphilosophisch, sondern auch rechtlich ein anerkannter Grundsatz. Kriegsdienstverweigerung ist inzwischen ein Menschenrecht und wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2011 bestätigt.4 Artikel 9 der europäischen Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf Gedanken-, Gewissens– und Religionsfreiheit.5 Für die Diskussion um deutsche Waffenlieferungen und den Gegensatz zwischen Kollektivrechten und Individualrechten kann jedoch auch das Grundgesetz herangezogen werden. in Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz regelt: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“6 Ein besonderes Augenmerk sei hier auf das Wort „Niemand“ zu legen. Dieser Grundsatz bezieht sich explizit nicht nur auf deutsche Staatsbürger, sondern auf alle Menschen. Der deutsche Staat erkennt die oben aufgeführte Argumentation an, dass Menschen sich des eigenen Denkens bedienen und aufgrund ihres Gewissens keinen Dienst an der Waffe tätigen möchten. Was bedeutet dieses Argumentation für die Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine?

Grundsätzlich müssen das Recht auf Selbstverteidigung eines Staates und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung keine widersächlichen Punkte sein. Immanuel Kant plädiert aus diesem Grund dafür, einen Krieg nur mit Freiwilligen zu führen und den Entschluss zum Krieg demokratisch zu begründen. Ersteres ist in der Ukraine nicht der Fall. In der Ukraine kollidieren das Prinzip der Selbstverteidigung und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung jedoch miteinander, das letzteres nicht anerkannt wird. Dies bringt uns in die Situation, auf der einen Seite den Freiheitskampf der Ukraine zu unterstützen und auf der anderen Seite durch unsere Unterstützung die individuellen Rechte derjenigen Ukrainer zu verletzen, welche nicht an diesem Krieg teilnehmen möchten. Denn unsere Waffenlieferungen führen dazu, dass die Ukraine den Kriegszustand aufrechterhalten kann und haben damit eine direkte Auswirkung darauf, dass Menschen gegen ihren Willen an diesem Krieg teilnehmen müssen.

Wir gelangen also an einen Punkt, an welchem zwei Rechtsgüter miteinander konkurrieren. In der Rechtslehre wird dieser Fall mit der sogenannten praktischen Konkordanz gelöst, wenn zwei gleichrangige Verfassungsnormen miteinander kollidieren. In solchen Situationen muss eine Lösung gefunden werden, welche beiden Normen Rechnung trägt und einen schonenden Ausgleich schafft ohne die eine der anderen unterzuordnen. Das deutsche Grundgesetz formuliert zwar das Staatsziel Sicherheit nicht explizit, wir akzeptieren aber, dass dies eine wesentliche hoheitliche Aufgabe des Staates ist. Wie könnten wir also handeln?

Eine Möglichkeit wäre es, diese Diskussion im Grundsatz abzulehnen und nur auf das Kollektiv zu verweisen. Im Kriegsfall, so die Argumentation, geht es darum, dass große Ganze zu bewahren, auch wenn dafür individuelle Rechte verletzt werden müssen. Der Utilitarismus nach John Stuart Mill liefert dafür eine gute Grundlage. Dieser angelsächsische Ansatz der Moralphilosophie ist am besten mit dem bekannten Trolley-Problem zu beschreiben. Eine Straßenbahn fährt mit Geschwindigkeit auf eine Weiche zu. Fährt die Bahn nach links stirbt ein Mensch, der auf der Schiene angekettet ist. Fährt die Bahn nach rechts, sterben vier Menschen, die auf der Schiene angekettet sind. Der Utilitarismus untersucht dieses Problem in vielen verschiedenen Varianten und versucht stets, nach der Prämisse der Leidminimierung und Glücksmaximierung zu handeln. Die Weiche würde in diesem Fall nach links gestellt werden, da so weniger Leid entsteht, als wenn die Bahn nach rechts fahren würde. Mit dieser Grundlage kann argumentiert werden, dass durch unsere Waffenlieferungen größeres Leid verhindert wird, weil Russland mit seinem Angriff der ukrainischen Bevölkerung erheblichen Schaden zufügt und unsere Waffenlieferung im Sinne der Verteidigung diesen Schaden begrenzen können. Ein Unterlassen von Waffenlieferungen vergrößert demnach das Leid für die Gesamtzahl der Menschen im Gegensatz zu der Anzahl der Menschen, welche jetzt gegen ihren Willen Leid durch den Krieg erfahren. Diese Argumentation ist jedoch hochgradig schwierig, weil verschiedene Prämissen dafür stimmen müssten. Wer kann sagen, dass durch die Verteidigung der Ukraine tatsächlich weniger Menschen sterben und Leid minimiert wird, als wenn die Ukraine sich einfach ergeben würde? So wie in dem Trolley-Problem zusätzliche Argumente die Entscheidung ändern, beispielsweise hätte die Person auf der linken Schiene ein Mittel gegen Krebs im Gepäck, wird es in einem derartigen Krieg schwierig, vorauszusagen und abzuwägen, wie sich bestimmte Entscheidungen auf das Gesamtleid der Situation auswirken würden.

Auch wenn der Utilitarismus als grundlegende Theorie insbesondere in Amerika vielfach Verwendung findet und für die Diskussion von kollektiven Problemen wie beispielsweise dem Klimawandel hochinteressant ist, ist er für unser grundlegendes Werteverständnis zumindest in Deutschland nicht maßgeblich. Insbesondere die Lehren aus dem zweiten Weltkrieg und das kategorische Ablehnen von derartigen Abwägungen aufgrund der Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde führen unser Werteverständnis und unser Rechtssystem wieder nahe an den kategorischen Imperativ von Kant heran und betonen die individuelle Verantwortung für das eigene Handeln. Diese verbietet uns, die Weiche überhaupt zu stellen, da wir keine moralisch richtige Entscheidung treffen können. In Deutschland können Menschenleben nicht miteinander aufgewogen werden. Aus ähnlichen Gründen ist der Abschuss eines entführten Flugzeuges in Deutschland verfassungswidrig. Ein Mensch ist in unserem Rechtssystem nicht weniger wert als zwei Menschen. Wir können das unfreiwillige Sterben einzelner, welche zum Kriegsdienst in der Ukraine gezwungen werden also nicht damit rechtfertigen, dass mehr Menschen dadurch in Freiheit leben. Bleibt uns also erneut nur die Möglichkeit der praktischen Konkordanz. Wir müssen einen Weg finden, beide verfassungsmäßigen Rechtsgüter in Einklang zu bringen.

Hier tun sich vorerst zwei Wege auf. Erstens: Eine Lösung wäre, die Waffenlieferungen an die Bedingung zu knüpfen, dass nur diejenigen Soldaten mit deutschen Waffen ausgestattet werden, welche sie freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben. Im Kriegsfall können Menschen in vier Gruppen eingeteilt werden.

ð Erste Gruppe: Totalverweigerer – Entziehen sich Kriegs- und Zivildienst

ð Zweite Gruppe: Kriegsdienstverweigerer – Verweigern lediglich den Dienst an der Waffe

ð Dritte Gruppe: Leisten Kriegsdienst, wenn sie eingezogen werden

ð Vierte Gruppe: Melden sich freiwillig zum Kriegsdienst.

Solange die Ukraine aber das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht akzeptiert, ist es schwer zwischen Gruppe zwei und Gruppe drei zu unterscheiden. Denn solange Menschen, die dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisten, mit harten Strafen rechnen müssen, ist nicht zu unterscheiden, wer unfreiwillig den Kriegsdienst leistet. Insofern dürften deutsche Waffen zum aktuellen Zeitpunkt nur an die vierte Gruppe ausgehändigt werden. Garantiert uns die Ukraine, dass unsere Waffen nicht an Menschen aus Gruppe drei abgegeben werden, können wir verhindern, dass unter Umständen Ukrainer am Krieg teilnehmen, obwohl sie bei Existenz der Möglichkeit, den Kriegsdienst verweigern würden. Auf den ersten Blick ließe sich der Konflikt um Waffenlieferungen damit lösen.

Die Idee, Waffenlieferungen an Bedingungen zu knüpfen, findet bereits praktische Anwendung. Man beobachte die Diskussion um Panzerlieferungen, um Taurus-Raketen und anderes Kriegsmaterial. Stets wurden mit der Lieferung von Waffen auch Bedingungen zu Verwendung verknüpft. Vorrangig, um Deutschland in den Augen Russlands nicht als aktive Kriegspartei erscheinen zu lassen. Doch es spricht nichts dagegen, auch andere Grundsätze, wie das Waren von individuellen Grundrechten an Waffenlieferungen zu knüpfen. Allerdings ist die Kontrolle der Waffenabgabe an freiwillige Kämpfer oder unfreiwillige Kämpfer in der Realität wesentlich schwerer durchzusetzen, als der vertragswidrige Einsatz von deutschen Marschflugkörpern. Dennoch könnte die Bedingung der Abgabe von deutschen Waffen an freiwillig gemeldete ukrainische Soldaten den Konflikt vorerst auflösen. Diese Annahme hält jedoch nur so lange, wie wir auch annehmen, dass dies tatsächlich geschieht. Ist uns im Vorhinein klar, dass die Ukraine diese Bedingung nicht erfüllen kann oder mag, bedienen wir uns lediglich eines Tricks, um uns aus der eigenen Verantwortung zu stehlen. Weiterhin könnte argumentiert werden, dass unsere Waffenlieferungen, selbst wenn diese nur in den Händen der freiwillig kämpfenden Soldaten landen, grundsätzlich dazu führen, dass die Ukraine weiterkämpfen kann und wir damit indirekt auch die Möglichkeit des unfreiwilligen Kriegsdienstes aufrechterhalten.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Waffenlieferungen Deutschlands an die Bedingung zu knüpfen, dass die Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkennt und nur diejenigen Menschen in den aktiven Kriegsdienst schickt, welche dies tatsächlich freiwillig tun. Nur unter dieser Bedingung kann auch tatsächlich mit einem Freiheitskampf der Ukrainer argumentiert werden und Waffenlieferungen unsererseits würden geradezu zur Pflicht. Sobald das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine gilt, sieht die Welt tatsächlich, wie viele Menschen für die Freiheit in der Ukraine kämpfen. Denn aktuell müssen sich Befürworter der Erzählung, die ukrainische Bevölkerung würde um ihre Freiheit kämpfen, die Frage gefallen lassen, wie das mit Fug und Recht behauptet werden kann, wenn ein Zwang zum Freiheitskampf herrscht. Mehr noch. Da die Ukraine das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber schon, bringt diese Situation die Unterstützer der Ukraine in ein rechtliches Dilemma. Die Bundesregierung muss die Verletzung des Völkerrechts durch Russland ahnden, während sie gleichzeitig die Verletzung des Völkerrechts durch die Ukraine in Bezug auf Kriegsdienstverweigerung ebenfalls ahnden müsste. Es wäre nicht das erste Mal, dass dem Westen Doppelmoral in Bezug auf Einhaltung des Völkerrechts vorgeworfen wird.

Konkret hat dieses rechtliche Dilemma auch Auswirkungen für die sich in Deutschland befindenden ukrainischen Männer und die Frage nach der Auslieferung dieser. Diese Frage ist aktuell hoch umstritten und wird immer wieder diskutiert. Sowohl Deutschland als auch die Ukraine haben das Europäischen Auslieferungsübereinkommen (kurz: EuAlÜbk) unterzeichnet und müssten männliche ukrainischen Kriegsflüchtlinge, welche sich dem Militärdienst entziehen, eigentlich ausliefern. Gleichzeitig erkennen wir das Recht auf Kriegsdienstverweigerung an. Aus diesem Grund ist die Verfahrensweise bezüglich Auslieferung von ukrainischen Deserteuren noch unklar.7 In der Vergangenheit haben Verwaltungsgerichte in Deutschland die Abschiebung und Auslieferung von jugoslawischen und armenischen Deserteuren verhindert.8

Fordern wir also die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerung von der Ukraine und knüpfen diese an die Bedingung der Waffenlieferungen. Eine derartige Forderung würde, zu heftigen Diskussionen in Politik und Medien führen. Immer wieder wird betont, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist und selbst darüber entscheidet, wie sie diesen Krieg führt, wann er beendet wird und welche Konzessionen sie gegenüber Russland bei eventuellen Verhandlungen macht. Eine zu starke Einmischung Deutschlands in die interne Politik der Ukraine wird als kritisch gesehen.

Und was ist eigentlich mit der Gegenseite? Auch Russen und inzwischen Nordkoreaner werden gegen ihren Willen zum Krieg gezwungen. Tragen wir ebenfalls Verantwortung für den Tod von russischen jungen Männern, die durch deutsche Waffen an der Front sterben, oder sind wir aufgrund unseres geringen Einflusses auf das Handeln von Nordkorea und Russland von dieser Verantwortung befreit? Wird die Verpflichtung zur Beseitigung von Unrecht weniger, weil wir vermeintlich weniger Einfluss auf dessen Entstehung haben? Hier könnte mit ultra posse nemo obligatur argumentiert werden. Wenn wir keinen Einfluss auf die Taten Russlands haben, müssten wir auch keine moralische Verpflichtung für die Taten Russlands haben. Jedoch müssen sich andere Staaten, die Russland mit Waffen unterstützen, diese Fragen stellen. Selbstverständlich, so wird Mancher einwenden, ist dies eine utopische Vorstellung. Russland und seine verbündeten ebenfalls autokratischen Staaten agieren nicht nach diesen Moralvorstellungen. Der Verweis auf Realpolitik beschreibt zwar die Realität und damit das moralische Dilemma, in welchem wir stecken, macht die Argumentation deswegen aber nicht falsch. Wir können unsere eigenen moralischen Ansprüche nicht mit Verweis auf unmoralische Handeln unserer Gegner absenken. Der Zweck heiligt die Mittel nicht.

Übrigens wird auch vor dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht argumentiert, dass die Ukraine ihre Bevölkerung im Kriegsfall nicht zu anderen Möglichkeiten der Unterstützung zwingen darf. Beispielsweise kann man in Deutschland bei Verweigerung am Kriegsdienst mit der Waffe zu Zivildienst verpflichtet werden. Damit können sich Bürger*innen dem Staatsziel der Verteidigung nicht entziehen, müssen aber nicht zwangsläufig den Dienst an der Waffe leisten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschreibt in der Rechtslehre die Anforderung, dass staatliche Gewalt nur bei wirklicher Dringlichkeit angewendet werden darf und im Sinne der Verhältnismäßigkeit ein gewisses Maß nicht überschreiten darf: „Das Gebot der Angemessenheit (auch: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) verlangt, dass eine staatliche Maßnahme nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck steht. Das bedeutet, dass die von einer staatlichen Maßnahme Betroffenen nicht übermäßig oder unzumutbar belastet werden dürfen.“9 Es geht also beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz um eben die Problematik der Konkurrenz von individuellen Freiheitsrechten und den Rechten des Kollektivs. Da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aber ein Grundrecht und Menschenrecht ist, ist eine Einschränkung dieses Rechts fraglich. Kann das Staatsziel auch durch ein milderes Mittel erreicht werden, dann gebietet es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dieses mildere Mittel vorzuziehen. Befürworter argumentieren, dass der Zwang zum Zivildienst ein solches milderes Mittel darstellt und dementsprechend anzuwenden ist. Denn auch im aktuellen Kriegsfall werden nicht nur Soldaten, sondern auch Zivildienstleistende benötigt.

Es wird mit Sicherheit nicht leicht, diese Situation aufzulösen. Die Frage nach Waffenlieferungen und eventuell damit verknüpften Bedingungen in diesem Konflikt erfordern einen kühlen Kopf und ein unaufgeregtes Auseinandersetzen mit der moralischen Verpflichtung unserer Gesellschaft in diesem Krieg. Emotionale Beschimpfungen der einen oder anderen Seite versperren den Blick für das tatsächliche Leid, das aktuell stattfindet. Sowohl das Staatsziel der Ukraine und der Bundesrepublik Deutschland, als auch das Recht des Einzelnen sind zu bewahren. Vor diesem Hintergrund kommen wir um eine Lösung nicht herum. Solange die Frage der Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine allerdings nicht geklärt ist, tragen wir meiner Meinung nach jedoch Mitverantwortung für jeden ukrainischen Menschen, der gegen seinen Willen an der Front stirbt.

Quellenangaben für den letzten Artikel aus Platzgründen hier aufgeführt:

  1. Albert Schweizer (1954): Das Problem des Friedens in der heutigen Welt, Rede bei Entgegennahme des Nobelpreises in Oslo 1954
  2. Jonas Spreter (2024): Ukrainische Geheimdienste durchsuchen hunderte Objekte mutmaßlicher Schleuser, Zeit Online
  3. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Text und Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen, Berlin 2022
  4. Rudi Friedrich, Pro Asyl (2022): Kriegsdienstverweigerung und Desertion: Belarus, Russische Föderation und Ukraine
  5. Dejure, Europäische Menschenrechtskonvention, Art.9
  6. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 4
  7. Aykut Elseven, Schlun & Elseven Rechtsanwälte (2023): Auslieferung von Kriegsdienstverweigerern an die Ukraine / Russland
  8. Wissenschafltiche Dienste, Deutscher Bundestag (2015): Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht und Fluchtgrund im Völkerrecht
  9. Bundesministeriuum der Justiz: Verhältnismäßigkeit als rechtsstaatliches Grundprinzip

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