UfU Informationen | Ausgabe 8 – März 2023 | Niklas Müller & Jonas Rüffer

Krieg und Ernährungssicherheit

Wieso der Krieg in der Ukraine die Menschen weltweit hungern lässt

Wir haben bereits in den UfU Informationen Ausgabe #5 über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die weltweite Ernährungssicherung berichtet. Da der Krieg jedoch weiterhin andauert, haben wir uns entschieden, das Thema noch einmal genauer zu beleuchten.

Wieso führen Kriege zu Hunger?

Es gibt zahlreiche Gründe, wie Kriege zu Hunger und Hungersnöten führen. Der offensichtlichste ist, dass die Produktion im eigenen Land beeinträchtigt wird, da in der Landwirtschaft, Logistik und dem Vertrieb tätige Personen als Soldat*innen eingezogen und landwirtschaftliche Betriebe durch Angriffe beschädigt werden. Zusätzlich werden internationale Lieferketten und der Import von Lebensmitteln stark beeinträchtigt, wenn Infrastrukturelemente wie Straßen oder Häfen zerstört werden oder Frachtflugzeuge das Land nicht mehr anfliegen können. Weitere Gründe können Fehlplanung, Inflation oder finanzielle Engpässe der Bevölkerung sein.

Doch wie unterscheiden sich die Kriege und damit verbunden die Auswirkungen auf Nahrungsmittelsicherheit von heute zu denen im ersten und zweiten Weltkrieg? Wieso lässt der Krieg in der Ukraine die Menschen heute weltweit hungern?

Erster Weltkrieg: Fehlplanung

Der erste Weltkrieg war in Bezug auf Lebensmittelsicherheit gezeichnet von Fehlplanung und Fehleinschätzung. Deutschland schickte so viele Männer an die Front, dass es in der Heimat an Menschen fehlte, die die körperlich schwere landwirtschaftliche Arbeit verrichteten. Den verbliebenden Arbeiter*innen fehlten auch Pferde und andere Lasttiere, die zu der Zeit in der Landwirtschaft benötigt wurden. Die Tiere wurden für den Transport von militärischem Gerät für die Armee eingezogen oder zur Versorgung der Soldaten geschlachtet.[1] Damit fehlten der heimischen Landwirtschaft essentielle Güter, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Die Kartoffelproduktion sank in Deutschland von 52 Millionen Tonnen im Jahr 1913 auf 29 Millionen Tonnen im Jahr 1918.[2]

Dieser Produktionsrückgang wurde durch die britische Seeblockade in der Nordsee verschärft und führte dazu, dass Lebensmittel in Deutschland knapp wurden. In den Kriegsjahren bestand eine Tagesration für die Zivilbevölkerung aus fünf Scheiben Brot, fünf Gramm Butter, 20 Gramm Zucker und etwas Fleisch.[3] Im Vergleich zu den Vorkriegsjahren stiegen durch die Unterversorgung die Raten an Tuberkuloseerkrankungen, Grippe und anderen Immunkrankheiten, die Kindersterblichkeit stieg um 50 Prozent und doppelt so viele Mütter starben bei der Geburt des Kindes.[4] Insgesamt verhungerten während des ersten Weltkrieges in Deutschland über 750.000 Menschen.[5]

Sucht man nach den Gründen für diese Hungersnot kann vor allem fehlende Planung genannt werden. Die Überschwänglichkeit, mit der Deutschland in den Krieg zog, führte zu einer massiven Fehleinschätzung bezüglich der benötigten Güter für die Aufrechterhaltung der Lebensmittelproduktion im eigenen Land. Weit verbreitet war die Annahme, dass der Krieg rasch gewonnen und Soldaten zum Einholen der Ernte bereits wieder zu Hause wären. Deutschland war in keiner Weise darauf vorbereitet, dass sich aus den Kriegserklärungen an Russland, Frankreich und Großbritannien im August 1914 ein vierjähriger Krieg entwickeln würde, der am Ende ca. 17 Millionen Menschen das Leben kostete.

Das Immunsystem und die Konzentrationsfähigkeit von Menschen, die unter Unterernährung leiden, werden stark geschwächt. Dadurch werden sie häufiger krank und ihre Leistungsfähigkeit nimmt ab. Das betrifft vor allem Kinder, deren körperliche Entwicklung und schulischen Leistungen beeinträchtigt werden. Als Folge dessen sind sie oft zu dünn (wasted) oder zu klein (stunted) für ihr Alter und brechen häufiger die Schule ab.

Zweiter Weltkrieg – Zerstörung

Ausgelöst durch die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, war Deutschland im zweiten Weltkrieg im Jahr 1939 besser vorbereitet. Das Ziel war von Lebensmittelimporten unabhängig zu sein und die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln aus dem eigenen Land sicherzustellen. Studien belegen, dass die Lebensmittelversorgung bereits 1937 geplant wurde. Die Vorratsspeicher waren gut gefüllt und bei Getreide, Kartoffeln, Zucker und Fleisch war eine Selbstversorgung von 100 Prozent erreicht worden.[6]

Mit Kriegsbeginn wurde eine Zwangsrationierung in Deutschland eingeführt. Grundnahrungsmittel wie Fett, Fleisch, Butter, Milch, Käse, Zucker, Brot, Eier und Marmelade konnten ab September 1939 nicht mehr normal erworben werden. Stattdessen wurden Lebensmittelmarken eingeführt, um die Abgabe wichtiger Grundnahrungsmittel an die Bevölkerung zu rationieren.[7] So war die deutsche Bevölkerung bis Kriegsende relativ gut versorgt, vor allem durch starke Ausbeutung der eroberten Gebiete im Osten, auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung.

Mit Kriegsende änderte sich diese Situation jedoch für die meisten Menschen in Deutschland und  auch dem Rest von Europa. Die Länder lagen in Trümmern und waren in einem solchem Ausmaß zerstört worden, dass die Nahrungsmittelproduktion in Deutschland 1946 um 37 Prozent zurückging und im Jahr 1947 um 25 Prozent gegenüber den Jahren 1938/39.[8] Die zerbombten Städte und Dörfer machten funktionierende Produktionsketten unmöglich, geschweige denn das Aufbauen von guten Handelsstrukturen mit anderen Ländern. Deutschland musste eine immense Zahl an Vertriebenen aus den nunmehr abgetretenen Gebieten versorgen, was zu weiterer Lebensmittelknappheit führte. Um die wenigen Lebensmittel zu rationieren, wurden in den verschiedenen Besatzungszonen neue Lebensmittelmarken mit verschiedenen Stufen ausgegeben, je nach Alter, Beschäftigung und Parteizugehörigkeit.

Das Aufrechterhalten der landwirtschaftlichen Produktion wurde in den darauffolgenden Jahren  durch klimatische Bedingungen erschwert. Der Sommer 1946 war ungewöhnlich heiß, die Ernte fiel spärlich aus. 1946/47 kam dann der kälteste Winter des Jahrhunderts dazu und in ganz Europa brach eine schwere Hungersnot aus. Flüsse wie Elbe und Rhein waren vereist, die Binnenschifffahrt brach zusammen und andere Verkehrswege waren noch vom Krieg zerstört. Die Temperaturen sanken auf minus 25 Grad und es gab 40 Tage Dauerfrost.[9] Die tägliche Ration an Nahrungsmitteln unterschritt 1000 Kalorien pro Tag. Medizinisch empfohlen werden je nach Alter und Geschlecht zwischen 2100 und 3000 Kalorien pro Tag. Bis 1948 starben in Deutschland mehrere hunderttausend Menschen, in der Sowjetunion rund zwei Millionen Menschen.[10]

Durch die Zerstörung von Siedlungen, Gebäuden und anderen Einrichtungen werden giftige Chemikalien in die Umwelt freigesetzt. Diese Substanzen haben das Potenzial, Boden, Wasser und Luft dauerhaft zu verschmutzen und können auch nach Kriegsende durch Bewässerung und den Boden in die Lebensmittel gelangen. Kontaminierte Lebensmittel können bei Verzehr wiederum zu schweren Erkrankungen führen.

Globalisierung und Krieg

In der globalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts beeinträchtigen Kriege nicht nur die Ernährungssicherheit derer, die unter der direkten Zerstörung leiden. Durch höhere Lebensmittelpreise und Lieferengpässe treffen die Auswirkungen von Kriegen heute auch einkommensschwächere Personen in anderen Teilen der Welt.

Vor der Globalisierung produzierten die meisten Länder überwiegend Lebensmittel und Waren für den eigenen Bedarf, wie am Beispiel der Selbstversorgung Deutschlands im zweiten Weltkrieg deutlich wurde. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts nahmen die Warenexporte rasanter zu als die Warenproduktion (Siehe Abbildung: Entwicklung des grenzüberschreitenden Warenhandels). Weltweit begannen Betriebe sich auf die Produktion bestimmter Lebensmittel und Waren zu spezialisieren, weil dadurch höhere Gewinne zu erzielen waren. Fehlende Produkte wurden aus anderen Ländern importiert, da sie dort kostengünstiger produziert werden konnten. Dadurch stiegen die Warenexporte bei vergleichsweise geringer Zunahme der Warenproduktion. Das Streben nach höheren Gewinnen führte allerdings weltweit zu wirtschaftlichen Abhängigkeiten und starken Verflechtungen. In vielen Ländern kann die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung ohne Importe heute nicht mehr gewährleistet werden.

Wenn Kriege geführt werden, sind Versorgungsabhängigkeiten vor allem für Länder gefährlich, die viele Lebensmittel importieren. Durch Krieg ausgelöste Lieferengpässe erschweren den Import von Lebensmitteln und die dadurch ausgelösten Preissteigerungen machen Lebensmittel für einkommensschwache Haushalte weniger erschwinglich. Dieser Zusammenhang soll am aktuellen Beispiel des Krieges in der Ukraine verdeutlicht werden.

Krieg Ukraine & Russland

In 2021 gehörten Russland und die Ukraine weltweit zu den größten Exporteuren von Weizen, Gerste, Mais und Sonnenblumenöl (Siehe Abbildung: Anteil an der weltweiten Exportmenge 2021). Russland war mit 33 Millionen Tonnen der weltweit größte und die Ukraine mit 20 Millionen Tonnen der fünftgrößte Weizenexporteur der Welt. Bei dem Gerstenexport lag die Ukraine weltweit an zweiter und Russland an dritter Stelle. Für Mais und Sonnenblumenöl verhält es sich ähnlich.[11] Das liegt vor allem daran, dass die Landwirtschaft beider Länder von großen Flächen, fruchtbaren Böden und dem dazu passenden Klima profitiert.

Die Auswirkungen des Krieges führen aktuell zu einem Rückgang von Exporten bei Getreide und Pflanzenölen. Ernten können nur eingeschränkt eingebracht, verschickt oder weiterverarbeitet werden, wenn in der Landwirtschaft, Logistik und dem Vertrieb tätige Personen als Soldat*innen eingezogen oder landwirtschaftliche Betriebe und Maschinen durch den Krieg zerstört werden. Folglich können Felder nicht bestellt und volle Kornspeicher nicht geleert werden, wodurch die Bestände womöglich sogar verkommen. Außerdem fehlt es an Kraftstoffen, Saatgut und Dünger. Russland und Belarus, die zu den weltweit größten Exporteuren von Düngemitteln gehören, haben ihre Exporte in 2022 stark reduziert.[12]

Neben Zerstörung verhindern oft auch strategische Blockaden das Handeln mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Im ersten Weltkrieg sorgte die britische Seeblockade in der Nordsee dafür, dass entscheidende Güter Deutschland nicht erreichten. Eine solche Seeblockade der russischen Streitkräfte im Schwarzen Meer sorgte seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine dafür, dass Frachtschiffe ukrainische Häfen nicht verließen. Vor Kriegsbeginn wurden über 12 Prozent der globalen Weizenexporte und 16 Prozent der Maisexporte über den Hafen von Odessa abgewickelt. Mit der Blockade wurde das Getreide auf LKWs verladen und von Rumänien aus verschifft, was die Transportkosten für diese wichtigen Grundnahrungsmittel erhöhte. Die Blockade ist inzwischen aufgehoben, jedoch ist die Frachtschifffahrt durch Seeminen weiterhin stark gefährdet.[13]

Das sinkende Angebot an Getreide und Pflanzenölen auf den Weltmärkten trifft auf eine seit Jahren steigende Nachfrage, die zu einer Steigerung der Lebensmittelpreise beiträgt.[14] Die Situation ist besonders in den Ländern besorgniserregend, die einen hohen pro-Kopf Verbrauch von Getreide und Pflanzenöle aufweisen und diese Agrarprodukte hauptsächlich über den Seeweg aus Russland und der Ukraine beziehen. Ein Beispiel ist Ägypten. In Ägypten werden pro Kopf etwa 200 kg Weizen pro Jahr konsumiert, was ungefähr ein Drittel der Kalorienzufuhr eines Ägypters ausmacht. Im Vergleich sind es in Deutschland etwa 80 kg. Da Ägypten weltweit der größte Importeur von Weizen ist, ist die Bevölkerung des Landes besonders stark von den Lieferengpässen und Preissteigerungen betroffen.[15]

Erste Schätzungen gehen davon aus, dass durch den Krieg in der Ukraine weltweit weitere 8 bis 11 Millionen Menschen zusätzlich unter Unterernährung leiden werden vor allem in Afrika, Südostasien und im Nahen Osten.[16] Als Folge dessen herrscht derzeit die größte Hungersnot seit dem zweiten Weltkrieg, von der weltweit mehr als 50 Millionen Menschen betroffen sind. Zwar gibt es auf den Weltmärkten alternative Produzenten von Getreide und Pflanzenölen, aber der Anstieg der Ölpreise erhöht die Transportkosten aus Ländern wie Australien, Argentinien, Kanada und den USA. Höhere Transportkosten resultieren wiederum in höheren Lebensmittelpreisen, wodurch diese Produzenten häufig keine kostengünstigere Alternative darstellen.

Seit jeher wirken sich Kriege auf die Ernährungssicherung der Bevölkerung aus. Doch im Zuge der Globalisierung nehmen wirtschaftliche Abhängigkeiten und Warenexporte zwischen den Ländern immer weiter zu. Deswegen bedroht der Krieg in der Ukraine die Lebensmittelversorgung von Haushalten weltweit. Es ist von entscheidender Bedeutung, nicht nur für die Ukraine, zum Frieden zurückzukehren.

 

Quellenverweise:

[1] Wolfgang Görl, Süddeutsche Zeitung, Im Angebot: Dachs und Eichhörnchen, 11.08.2014

[2] Burkhard Asmuss, Deutsches Historisches Museum, Erster Weltkrieg – Die Lebensmittelversorgung, 14.09.2014

[3] Knut Weinrich, Planet Wissen, Die Heimatfront, 09.05.2018

[4] Arnulf Scriba, Deutsches Historisches Museum, Der „Kohlrübenwinter“ 1916/17, 08.09.2014

[5] Burkhard Asmuss, Deutsches Historisches Museum, Erster Weltkrieg – Die Lebensmittelversorgung, 14.09.2014

[6] Arnulf Scriba, Deutsches Historisches Museum, Der zweite Weltkrieg – Alltagsleben, 13.05.2015

[7] Arnulf Scriba, Deutsches Historisches Museum, Der zweite Weltkrieg – Alltagsleben, 13.05.2015

[8] Karl-Heinz Rothenberger, regionalgeschichte.net, Die Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel von Rheinland-Pfalz, 1997

[9] Michael Kuhlmann, Deutschlandfunk, Nachkriegsdeutschland im täglichen Überlebenskampf, 16.11.2021

[10] NDR, Der “weiße Tod” im Hungerwinter 1946/47, 02.05.2022

[11] Food and Agriculture Organization of the United Nations, The importance of Ukraine and the Russian Federation for global agricultural markets and the risks associated with the current conflict, 2022

[12] Tobias Heidland, Bundeszentrale für politische Bildung, Der Ukrainekrieg und die globale Ernährungssicherheit, 21.06.2022

[13] Kevin Schulte, ntv, Wie Russland das Schwarze Meer blockiert, 15.07.2022

[14] Tobias Heidland, Bundeszentrale für politische Bildung, Der Ukrainekrieg und die globale Ernährungssicherheit, 21.06.2022

[15] Tobias Heidland, Bundeszentrale für politische Bildung, Der Ukrainekrieg und die globale Ernährungssicherheit, 21.06.2022

[16] FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO. 2022. The State of Food Security and Nutrition in the World 2022. Repurposing food and agricultural policies to make healthy diets more affordable.