UfU Informationen | Ausgabe 10 – Oktober 2023 | Dr. Michael Zschiesche
Zur Wirksamkeit von Klimaklagen
Klimaklagen nehmen – weltweit gesehen – und auch in Deutschland zu. Mögen die Ziele der Klagen im Bereich Klimaschutz verschieden sein – es gibt u.a. Klagen gegen Regierungen, ihre Anstrengungen für ambitioniertere Klimaziele deutlich zu erhöhen, es gibt Klagen gegen Unternehmen, die Produktion bestimmter Produkte oder fossiler Energien zurückzufahren oder gänzlich einzustellen, es gibt Klagen auf Schadenersatz gegen Unternehmen, um nur einige der Stoßrichtungen von Klimaklagen zu nennen – es eint sie alle der Ansatz, über rechtliche Instrumente dem Klimaschutz schneller und effektiver zur Durchsetzung zu verhelfen.
Wie eine neue, weltweite Studie der Columbia University in New York zu Klimaklagen nun deutlich gemacht hat,[1] wurden 2022 weltweit etwa 2200 Klimaklagen gezählt, während es 2017 etwa 900 gab. Von diesen 2200 Fällen wurden 1522 in den USA vor Gerichten ausgefochten, 558 in anderen Staaten der Erde oder vor zwischenstaatlichen- bzw. anderen Streitschlichtungseinrichtungen. Auf Deutschland sollen 2022 gemäß der Studie 38 Fälle entfallen, in Australien wurden 127 Fälle gezählt und in Großbritannien 79. Unabhängig von Methode, Zählweise und Abgrenzungsfragen erscheint die Zahl der in Deutschland geführten Klagen gemäß der Studie der Columbia University eher etwas zu niedrig. Denn neben Klagen für Klimaschutz sind auch in Deutschland und weltweit zunehmend Klagen gegen ein zu viel in Sachen Klimafragen zu beobachten, leider mit wachsendem Erfolg. Im internationalen Vergleich aber liegt Deutschland mit den registrierten 38 Fällen eher im vorderen Mittelfeld.
Jenseits aller statistischen Daten zu Klimaklagen ist aber vor allem von Interesse, was Klimaklagen bewirken. Denn Gerichte haben keine polizeilichen oder sonstigen Instrumente, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Und der Vollzug der in den letzten Jahren auch in Deutschland immerhin deutlich ambitionierteren, aber gemessen am Problem immer noch nicht ambitioniert genug ausfallenden Klimaziele ist ja das eigentliche Problem von weltweiten Gesellschaften, die sich scheinbar nicht ändern wollen. Können also gerichtliche Entscheidungen in Fragen des Klimaschutzes helfen? Ich will versuchen am Beispiel Deutschlands, diese nicht einfach aufzulösende Frage zu beantworten.
Zunächst, Deutschland ist ein Rechtsstaat. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber nicht in allen Ländern dieser Welt gibt es vom Staat unabhängige Organe zur Prüfung, was Recht und was Unrecht ist. Und in nicht wenigen Ländern gelten die Entscheidungen von Gerichten als wenig wert, weil sich die anderen staatlichen Gewalten wie Exekutive und Legislative darum nicht scheren. Nach Abzug der Staaten, die keine rechtlichen Instrumente zum Kampf gegen den Klimawandel zulassen, fallen nahezu die Hälfte der Staaten dieser Erde weg.
Das ist in Deutschland anders. Die wohl eindrücklichste Wirksamkeit, was gerichtliche Entscheidungen in Klimafragen bewirken können, stellt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 dar. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl hatte das Bundesverfassungsgericht seine richtungsweisende und öffentlich viel beachtete Entscheidung bekannt gegeben. Und noch vor der Sommerpause 2021 hat die damalige große Koalition das Klimaschutzgesetz, welches im Dezember 2019 nach langem Kampf überhaupt erstmals verbindliche Ziele für Deutschland festlegte, nochmals deutlich verschärft. So wurde die Frist zum Erreichen der Klimaneutralität von 2050 auf 2045 vorgezogen. Und die Treibhausgasemissionen sollen nun bis 2030 statt um 55 Prozent (Basis 1990), wie im Klimagesetz 2019 verankert, nunmehr um 65 Prozent (2021) sinken. Das verschärfte Klimagesetz wurde bereits am 24. Juni 2021, also knapp 6 Wochen nach Kabinettsbeschluss, vom Bundestag verabschiedet. Das alles hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bewirkt. Was damit auch verbunden ist, die Erreichung der im Klimaschutzgesetz verankerten Ziele sind wiederum gerichtlich überprüfbar. Umweltverbände haben beispielsweise das Recht, die Einhaltung der jährlichen Treibhausgasmengen gerichtlich und somit unabhängig feststellen zu lassen. Leider sind Klagen gegen einzelne Ressorts, die ihre festgelegten Sektorziele nicht erreichten, nicht möglich.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat darüber hinaus einige wichtige Grundsätze im Umgang mit Klimafragen entwickelt, die fortan das staatliche Handeln aller künftigen Regierungen in Deutschland grundieren. Das Verfassungsgericht hat als nicht im Einklang mit dem geltenden Recht beispielsweise entschieden, dass einer Generation das Recht zugestanden werde, „unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“. Dieses als intertemporale Freiheitssicherung der Grundrechte entwickelte Rechtsfigur zum Schutz kommender Generationen vor zu starker Belastung wird noch in vielen Fragen des Klimaschutzes in den kommenden Jahren seine Rolle spielen (müssen).
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat – könnte man nun einwenden – doch aber auch nur zunächst Papier produziert. Was hat die Entscheidung für den Klimaschutz denn konkret bewirkt? Selbstverständlich wurde durch die Gerichtsentscheidung kein unmittelbarer Klimaschutz bewirkt, sondern die Legislative musste tätig werden, um höhere ambitioniertere Klimaziele gesetzlich festzulegen, die wiederum Maßnahmen für ein Mehr an Klimaschutz nach sich ziehen sollen. Und das musste wiederum veranlasst, kontrolliert und ggf. nachgeschärft werden. Die Wirksamkeitsketten der Umsetzung von gesellschaftlich relevanten Zielen scheinen in komplexen Gesellschaften eher länger und unübersichtlicher zu werden.
Aber welche Wirkungen hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch nach sich gezogen? Da ist zum einen die dadurch ausgelöste, breite öffentliche Debatte. Das höchste Gericht, die Instanz mit der höchsten Legitimität, hat den Klägern zwar nicht in allen Punkten Recht gegeben, hat aber doch deutlich gemacht, der Staat müsse das Problem Klimaschutz ernster nehmen. Das verleiht allen Bemühungen für ein Mehr an Klimaschutz zusätzliche Kraft. In wie vielen Reden und Eröffnungsdebatten die Entscheidung des Gerichts in 2021 und 2022 eine Rolle spielte, lässt sich nicht beziffern. Es dürften sehr viele gewesen sein.
Das Gericht hat damit dem Thema Klimaschutz auch eine Dauerhaftigkeit in der Politik attestiert, an die sich jede deutsche Bundesregierung zumindest bis 2045 orientieren muss. Denn es ist die Frage, ob das jetzige Klimaschutzgesetz nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts in seinen Zielen überhaupt abgeschwächt werden darf.
Was zudem relevant ist. Man kann über die Maßnahmen zum Klimaschutz streiten. Aber nicht darüber, ob man überhaupt etwas tun muss. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts stärkt die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimaschutzes, anerkennt, dass es zum Ziel der Klimaneutralität Deutschlands keine Alternative gibt. Das ist in seiner Wirksamkeit noch gar nicht zu bemessen. Ignoranz, Verdrängung und das Behaupten falscher und unwissenschaftlicher Tatsachen und Zusammenhänge nehmen nicht nur in Deutschland eher zu als ab. Klimaschutz ist kein Sonntagsspaziergang, er hat Konsequenzen für jedermann in der Gesellschaft. Leider zunächst erst mal negative oder als negativ empfundene. Der Reflex der Verdrängung und des Aussitzenwollens ist wohl verständlich. Allein, es hilft nicht.
Das Verfassungsgericht sagt in seiner Entscheidung sogar, dass das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zunehme. Das bedeutet, heute genießt Klimaschutz noch keinen unbedingten Vorrang vor anderen Grundrechten und Grundrechtsprinzipien. Es ist, so sagen es die Karlsruher Verfassungsrechtler, derzeit ein Ausgleich herbeizuführen. Aber bei fortschreitendem Klimawandel und dem Zunehmen der Extremwetterereignisse sowie der festgestellten Unwirksamkeit bestimmter Maßnahmen zum Stopp des Klimawandels kann es bei Abwägungsentscheidungen in den nächsten Jahren immer häufiger der Fall sein, dass Klimaschutz quasi das letzte Wort erhält. Das würde dann beispielsweise auch auf alle Zulassungen von neuen fossilen Energieträgern zutreffen, die nicht mehr genehmigungsfähig wären. Eine Klage gegen das einzige nennenswert bedeutende deutsche Unternehmen im Bereich fossiler Rohstoffe, die Wintershall DEA ist seit 2021 vor dem Landgericht in Kassel anhängig. Angestrengt von der Deutschen Umwelthilfe und in seiner Zielrichtung dem Urgenda-Fall[2] gegen den Ölriesen Shell, der 2019 international Schlagzeilen machte, nachgebildet, soll gerichtlich das Aufschließen neuer Förderquellen ab 2026 untersagt werden. Was derzeit nur zivilgesellschaftliche Initiativen initiieren, wird früher oder später auch die Regierung gesetzlich normieren müssen, um die klimapolitischen Ziele zu erreichen. Zu einem Verbot der Gewinnung jeglicher fossiler Energien ist das staatliche Handeln im Jahr 2023 trotz der teilweisen grünen Regierungsbeteiligung noch nicht bereit und fähig.
Ein letztes Argument der Wirksamkeit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung in Sachen Klimaschutz ist die Anerkennung der Machtbalance in Rechtsstaaten wie Deutschland und der Akzeptanz rechtsstaatlicher Organe, also der dritten Gewalt im Allgemeinen. Nicht die Politik, nicht einzelne Persönlichkeiten und seien sie noch so klug und weise (oder auch nicht), entscheiden, ob die Richtung in Sachen Klimaschutz stimmt, sondern hierzu legitimierte gesellschaftliche Institutionen. In der Geschichte der Menschheit ist deutlich geworden, wie notwendig unabhängige Organe zur friedlichen Streitbeilegung sind. Gerichte sind unabhängig von Kultur, Religion und gesellschaftlichem Entwicklungsstand weltweit etablierte und anerkannte Mechanismen. Auch deshalb gilt es, sie in Sachen Klimaschutz weiter zu bemühen.
[1] https://climate.law.columbia.edu/news/sabin-center-unep-release-global-climate-litigation-report-2023-status-review